„Wald vor Wild“ oder lieber „Wald mit Wild“?

03 April 2019 |WIESBADEN
Rotwild schält gerne junge Fichten und Buchen. Der Schaden ist beträchtlich. Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) hat deshalb eine neue Schalenwild-Richtlinie verabschiedet. Doch die ist umstritten.
„Wald vor Wild“ oder lieber „Wald mit Wild“?

WIESBADEN - Frisst das Wild den Wald kahl? Die Förster haben im Odenwald im vergangenen Jahr an 8,4 Prozent aller jungen Fichten frische Schälschäden registriert. Im Spessart waren 6,8 Prozent dieser Baumart angeknabbert. Und im Dill-Bergland beziffert Hessen-Forst den Anteil der geschälten Fichten auf 5,8 Prozent. Zwischen zwei und zweieinhalb Millionen Euro betrug der Schaden durch Schälen junger Bäume, bilanziert André Schulenberg, Sprecher von Hessen-Forst. Verantwortlich dafür: der Rothirsch, der „König der Wälder“ mit seiner gesamten Entourage. Von diesen Tieren gebe es im Odenwald etwa – einem Rotwildgebiet mit einem nur geringen Staatswaldanteil – zu viele. Schulenberg sagt, dort schießen die Jagdpächter zu wenig, weil sie in ihren Revieren gerne hohe Wildbestände sehen.

Im Spessart freilich könnten die Förster das Schießen selbst übernehmen: Dort gibt es viel Staatswald. Die Schälschäden sind trotzdem deutlich zu hoch. „Wir haben den Rotwild-Bestand vor Ort lange Zeit unterschätzt“, so der Landesbetrieb selbstkritisch.

„Hessen ist bundesweit spitze bei Wildschäden im Wald“, meint der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Und lobt, dass Hessens Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) jetzt eine neue Schalenwildrichtlinie herausgegeben hat. Denn in Zeiten, in denen sich Witterungsextreme wie Stürme, Starkregen, Hitze und Trockenzeiten abwechseln und insbesondere in den Wäldern bisher nicht gekannte Schäden anrichteten, dürfe das Wild die Naturverjüngung im Wald nicht unterbinden.

Erklärtes Ziel dieser neuen Richtlinie ist ein ausgewogener Wildbestand. Im Klartext heißt das aus Sicht des Ministeriums: „Der Abschuss ist so zu regeln, dass die berechtigten Ansprüche der Forst-, Land- und Fischereiwirtschaft gewahrt bleiben.“ Wildschäden will die Ministerin auf ein tragbares Maß reduzieren. Weshalb sie Grenzwerte festgelegt hat: Als nicht mehr tragbar gilt, wenn mehr als 0,5 Prozent der Buchen Schälschäden aufweisen. Bei Fichten liegt der Wert bei einem Prozent. Ist diese Grenze überschritten, soll der Abschussplan „auf mindestens 130 Prozent des getätigten Vorjahresabschusses“ festgesetzt werden.

Beim Landesjagdverband stößt die Richtlinie auf entschiedenen Protest. Mit ihr würden „in erster Linie betriebswirtschaftliche Interessen von Waldbesitzern sowie des Landesbetriebes Hessen Forst“ verfolgt. Das Problem der Schälschäden werde überbetont und auf die Lebensbedürfnisse des Rotwilds nicht eingegangen. „Wir wollen aber nicht den Wildbestand zusammenschießen, nur damit der Wald gut wächst“, sagt Markus Stifter vom Landesjagdverband.

Rothirsche werden in Hessen in 20 Rotwildgebieten toleriert, außerhalb derer keine dauerhaften Populationen erwünscht sind. Zwischen diesen Gebieten gibt es zwar Jahrhunderte alte Wildwechsel. Die aber seien blockiert durch den steten Ausbau von Autobahnen und Bundesstraßen, so hat das Gerald Reiner vom Arbeitskreis Wildbiologie der Universität Gießen festgestellt. In diesen „Insellagen“ sei die genetische Vielfalt um 15 Prozent gesunken. „Je weniger Tiere in einer Population leben, umso höher wird der Grad der Inzucht“, sagt der Landesjagdverband. Durch Inzucht aber würden die Hirsche weniger widerstandsfähig gegen Umweltbedingungen und Krankheiten.

Abschussquoten notfalls gerichtlich überprüfen

Das nordhessische Wattenberg-Weidelburg gehört aus Sicht des Landesjagdverbandes zu den Rotwildgebieten, in denen der Bestand mit vielleicht noch 50,70 Tieren an einem gefährlichen Tiefpunkt angekommen ist. Einerseits. Andererseits sehen die Jäger auch, dass es Regionen gibt, in denen der Wildbestand zu hoch ist – der Hinterlandswald im Rheingau-Taunus etwa. Den Grundsatz „Wald vor Wild“ lehnen sie aber ab. Und pochen auf dem im hessischen Jagdgesetz verankerten Grundsatz „Wald mit Wild“. Vorsorglich macht der Landesjagdverband schon mal darauf aufmerksam, dass man eine Erhöhung der Abschussquoten auch gerichtlich überprüfen lassen könne.

 

Quelle: 
Wiesbadener Kurier
https://www.wiesbadener-kurier.de/politik/hessen/wald-vor-wild-oder-lieber-wald-mit-wild_20057701#